Magazin

Die Präsenz der Flüchtigkeit

Über den Bilderkosmos von Karen Simon

Essay zur Ausstellungseröffnung NOCTURNAL LINES
Galerie Schindler LAB Potsdam
18. September 2021

Ein einzelner Faden ist stärker als ein Seil aus Hanf. Ein stilles Blau steht kurz vor der Explosion. Die Wirkung von Karen Simons Arbeiten liegt in einem scheinbaren Paradox begründet: Ihre außergewöhnliche Kraft und Präsenz ruhen gerade in ihrer Fragilität und Zerbrechlichkeit. Ihre Flüchtigkeit trifft ins Mark. Ihre Zartheit setzt Maßstäbe.

Karen Simons Bilder sind materialisierte Momentaufnahmen. Es gibt keine Rahmung, ihre Stoffe weisen über sich hinaus und füllen Räume. Simon ist Malerin, Szenen- und Kostümbildnerin; ihre Darstellungen entstehen oft parallel zur Gestaltung von Theaterbühnen oder unkonventionelleren Spielorten wie Schwimmbädern. Dieses Wechselspiel verleiht ihren Bildern einen unverkennbar installativen Charakter. 

Sie bearbeitet Leinwände mit Tinte, Aquarell und Fäden verschiedener Dichte und Stärke. Sie kombiniert Techniken und Materialien unkonventionell, großzügig und verwegen. Darstellungen von greifbarer Sinnlichkeit entstehen. Einzelne Augenblicke, Bruchteile von Sekunden nur, werden wie beiläufig in eine irritierende Dreidimensionalität transponiert. 

Farbflächen zerlaufen. Die Beschaffenheit der Stoffe liegt bloß. Das Farbspektrum reicht von leuchtendem Kobaltblau bis hinein ins zarte, kaum noch wahrnehmbare Pastell. In diese Stofflichkeit hinein näht Simon ihre Motive. Ihre Portraits erzählen von Vergänglichkeit; gerade ihre Fragmenthaftigkeit und Abstraktion lassen sie verblüffend menschlich wirken. Simon entwirft fantastische Räume, unternimmt architektonische Wagnisse und lenkt den Blick in haltlose Innenräume. 

Vorder- und Hintergrund werden so zu obsoleten Kategorien. Simons Motive und Farbverläufe greifen ineinander und potenzieren sich gegenseitig ins Unendliche. Es entstehen traumähnliche Bilder, fesselnd und unheimlich zugleich. Zahllose Betrachtungsweisen sind möglich. Zahllose Betrachtungsweisen sind nötig. Und es werden immer mehr.

Die Vollendung von Karen Simons Arbeiten liegt gerade in dieser Offenheit. Nichts ist gegeben, nichts ist auf Dauer angelegt in ihrem Bilderkosmos. Trauer und Freude, Angst und Leichtigkeit koexistieren. Vergänglichkeit ist die verblüffend heitere Regel. Zeit und Raum sind für einen Moment lang außer Kraft gesetzt. Denn beim nächsten Blick wird vermutlich ein anderer Eindruck dominieren. Simons Ode an den Augenblick hängt immer am seidenen Faden, für die Dauer einer Betrachtung.